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30.01.2023

Gipfelpunkt der abendländischen Kirchenmusik

Ausschnitt Bachporträt von Elias Gottlob Haussmann

Am 11. und am 12. 2. führt die Hochschule die Matthäuspassion auf. Der Musikkritiker Markus Bruderreck erläutert die historischen Hintergründe des monumentalen Werkes.

Da gibt er sich solch eine Mühe. Und dann das! Ist Tabak in Brand geraten und auf das Manuskript gekrümelt? Oder hat jemand, gar er selbst, Johann Sebastian Bach, das Tintenfass umgeworfen oder einen Krug mit Wasser? 

Tatsache ist, dass die ersten zwölf Seiten von Bachs Reinschrift der Matthäuspassion vielsagende Besonderheiten aufweisen. Gegen Ende hin sind die Notenlinien nicht mehr gerade, sondern von Hand nachgezogen. Bach hat die ruinierten Ränder der Blätter abgetrennt und neue angefügt. Auf dem Manuskript ist nicht nur Bach, sondern auch der Librettist der Matthäuspassion ausdrücklich vermerkt: „Poesia per Dominum Henrici alias Picander dictus“. Ein gewisser Christian Friedrich Henrici, genannt Picander. Das ist nicht nur außergewöhnlich, das ist einzigartig. Bach adelt damit seinen Textlieferanten, der in der literarischen Welt damals einen nicht vollends guten Ruf genießt. „Giovanni Sebastiano“, wie sich der Komponist italienisierend mit der Abkürzung „G.S.“ auf der Titelseite nennt, hat das „geretete“ Manuskript 1736 angefertigt. Dazu sind auch Stimmen vorhanden, es hat also eine Aufführung gegeben. Die Uraufführung ist dies jedoch nicht gewesen, lediglich die erste Aufführung, die zweifelsfrei nachgewiesen ist. Der Küster der Thomaskirche, Johann Christoph Rost, hat sie in seinen Aufzeichnungen als besonderes Ereignis festgehalten, da sie „an beyden orgeln“ ausgeführt worden sei – welche Instrumente konkret damit auch gemeint sind. Das tatsächliche Datum der Uraufführung ist vermutlich der Karfreitag des Jahres 1727, also der 11. April. Für das Jahr 1729 wird eine weitere Aufführung vermutet.

Wie wir heute die Matthäuspassion aufführen – quasi genießerisch und Nummer für Nummer als Konzertmusik – so ist sie zu Bachs Zeiten nicht erklungen. Geschrieben wohl in den sechs Wochen zwischen Sonntag nach Aschermittwoch und Palmsonntag, ist die Musik fest eingebunden in die Karfreitagsliturgie der Leipziger Thomaskirche. Oratorische Passionsmusiken wie diese sind ein Novum in der Stadt. Bachs Amtsvorgänger Johann Kuhnau hat sie erst 1721 an der Thomaskirche eingeführt. Die Tradition der feierlichen Lesung des Karfreitagsgeschehens mit musikalischer Begleitung geht freilich weiter zurück, in die Anfänge der Christenheit. Für den Gottesdienst mit Matthäuspassion müssen die Gläubigen vier Stunden Zeit mitbringen. Zuerst läuten die Glocken, dann singt die Gemeinde. Das Evangelium wird verlesen, die Fürbitten und der Segen. Eine Motette darf nicht fehlen, ein Gebet und ein abschließendes Lied. Die für unsere Verhältnisse ausufernd lange Predigt dividiert die Passionserzählung in zwei Teile.

Musik bezieht sich auf Kirchen-Architektur
  
 

Die besondere musikalische Struktur der Matthäuspassion ist eng verbunden mit der Architektur der Thomaskirche. Das gesamte musizierende Ensemble ist geteilt, jedem Ensemble sind bestimmte Vokalsolisten, Musiker, ein Generalbass und ein vierstimmiger Chor zugewiesen – und auch wohl eine Orgel, wie Küster Rost festgestellt hat. Auf welche der Emporen in der alten Thomaskirche die beiden Ensembles aufgestellt gewesen sind, ist bis heute umstritten. Diese Praxis jedenfalls erlaubt ein Frage- und Antwortspiel mit szenischem Charakter, zum Beispiel den Dialog zwischen Zion und der Schar der Gläubigen. Bach hat dieses Mittel zuweilen fast opernhaft eingesetzt. Heute wird diese Aufstellung in der Regel nur im Ansatz nachvollzogen, damit die musikalischen Kontraste hör- und erlebbar bleiben.

Blitze, Donner und Hölle

Das Geschehen der Passion orientiert sich an Kapitel 26 und 27 des Matthäusevangeliums. Der Evangelist berichtet es, mal im Parlando, mal sehr expressiv. Begleitet wird er von der Stimme Jesu, die in einen Schimmer von leuchtenden Streicherstimmen gehüllt ist. Der Musikforscher Albert Schweizer hat ihn mit einem Heiligenschein verglichen. Ein weiteres Element der Passionsmusik sind zum einen die frei gedichteten Arien und Rezitative, in denen sich der Blick vollends nach Innen richtet. Zum anderen sind es Choräle aus dem Evangelischen Gesangbuch, die den Kirchgängern sehr vertraut gewesen sind. Allerdings harmonisiert Bach sie immer entsprechend der jeweiligen Situation. Ein Beispiel ist „O Haupt voll Blut und Wunden“. Der Choral ist zentral und taucht gleich vier Mal auf: tröstlich, aber an anderer Stelle auch herb und dissonant. Mit dem Chor geht Bach generell ungemein fantasievoll um. Es gibt Soloarien mit Chorbegleitung (Nr. 20), aber auch ein Duett mit Chor (Nr. 27a). Bach weiß Blitze, Donner und Hölle mithilfe seiner Stimmen effektvoll und geradezu wütend zu vertonen (Chor Nr. 27b). Kurze, dramatische Chorausbrüche können Nummern miteinander verbinden, aufkommendes Volksgemurmel darstellen (Nr. 58b) oder nur ein schlichter Ausruf sein (Nr. 61b). 

Leuchtendes Rettungsschiff

Von den groß angelegten Chören am Anfang und am Ende der beiden Passionsteile ist der Eröffnungschor wohl der beeindruckendste. Er ist Trauerzug und Kreuzweg zugleich, eine Aufforderung zur kollektiven Klage an die „Töchter Zions“, also uns Gläubige. Der Cantus firmus, der diesen Eröffnungschor durchzieht und den Bach in seiner Partitur mit roter Tinte geschrieben hat, ist wohl von der Ostempore der Thomaskirche aus erklungen. Musikwissenschaftler Martin Geck hat die Wirkung dieser Fernmusik umschrieben als ein „leuchtendes Rettungsschiff, das auf das wogende Meer der Trauer hinausgeschickt wird.“Nach den Szenen mit den Jüngern und dem Verrat im Garten Gethsemane zeigt der zweite Teil der Passion Jesus nicht mehr als Handelnden, sondern als Opfer. Er tritt vor den Hohepriester Kaiphas, wird von Petrus verleugnet und von Pontius Pilatus einer gehässigen Masse ausgeliefert. Gerade diese Szenen zeigen, dass Bach wohl auch einen guten Opernkomponisten abgegeben hätte. 

Singulär ist der „Barrabam“-Ausruf (Nr. 45a). Harmonisch betrachtet, muss man den Moment sogar atonal nennen. Besondere Beachtung verdient innerhalb der 78 Nummern des Werkes auch der „Lasset ihn kreuzigen“-Chor (Nr. 50b), den Bach mit dorniger Polyphonie ausstattet. Musikalisch stellt er darin einen Wald aus Kreuzen auf, Notenköpfe, die verbunden miteinander eine Kreuzform ergeben. Was musikalische Symbolik wie diese betrifft, ist die Matthäuspassion wie ein unerschöpfliches Meer an Bedeutsamkeit und gestalterischer Meisterschaft. Als pars pro toto stehe hier noch das „Geißelungs-Rezitativ“ (Nr. 51), bei dem man in den punktierten, abgerissenen Sechszehnteln die Geißel geradezu auf den blanken Rücken klatschen hört. Berührend dann die Arie mit Chor (Nr. 60). Die verirrten Seelen fragen, der Alt hat die Antwort: „In Jesu Armen sucht Erlösung“. Ein melodisch besonders eingängiger Höhepunkt ist die Arie „Mach dich, mein Herze, rein“ (Nr. 65). Der sanfte Zwölfachtelschwung in B-Dur trägt uns und den Heiland langsam zu jener „süßen Ruhe“ herüber, die in der Arie besungen wird. Im Schlusschor wünscht die Gemeinde Jesus „sanfte Ruh“. Ein Ende in Trauer, aber nicht durchweg in Moll getaucht.

Gipfelpunkt der abendländischen Kirchenmusik

Die Matthäuspassion ist nicht nur ein Gipfelpunkt der abendländischen Kirchenmusik, sondern auch der Musikgeschichte schlechthin. Ein monumentales und zugleich inniges, intimes Meisterwerk, vielgestaltig und unergründlich. Wie haben die Zuhörer damals darauf reagiert? Dazu existieren keine Zeugnisse. Aber den Zeitgenossen wird die künstlerische Bedeutung, die allein schon durch die Länge des Werkes entsteht, wohl aufgefallen sein. Auch Bach hat sein Werk für einen Höhepunkt seines Schaffens gehalten. Eine Bemerkung auf einem verirrten Stoß Noten weist darauf hin: „zur groß Bassion“ steht auf den Blättern, die man nach Bachs Tod ordnet. 

Vielfältige Rezeption

Wohl kein zweites Werk der Musikgeschichte hat auch so vielfältig nachgewirkt. Nicht nur Komponisten und Dirigenten, auch Theologen, Schriftsteller, Philosophen und Regisseure haben über die Matthäuspassion reflektiert. Im Jahr 1829 kommt es zu der spektakulären Wiederentdeckung des Werkes durch Felix Mendelssohn-Bartholdy. Das Konzert in Berlin am 11. Märzjenes Jahres läutet die eigentliche Wirkungsgeschichte der Passion ein. Auch der Komponist Hans Werner Henze gehört zu jenen, die sie mit Worten beschrieben haben. Vor allem sich selbst als einsames Individuum hat er darin wiedererkannt. „Diese Musik vergibt uns armen Teufeln, sie verspricht uns neue Lust, sie weint für uns mit allen Seelen. Wir setzen uns mit ihr, zu ihr, mit Tränen nieder."



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